Ich bleibe hier (German Edition) by Balzano Marco

Ich bleibe hier (German Edition) by Balzano Marco

Autor:Balzano, Marco [Balzano, Marco]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diogenes Verlag
veröffentlicht: 2020-06-23T16:00:00+00:00


10

Ein zuerst rosafarbenes, dann zartblaues Licht durchdrang die tiefe Dunkelheit des Himmels. Die Sonne ging auf. Erich zeigte mir weit unter uns das winzige Graun. Auf den Steinen sitzend aßen wir den Zwieback und den Käse. Er gab mir einen Schluck Schnaps zu trinken, und ich kippte ihn hustend hinunter. Eine durchsichtige Helligkeit erleuchtete nun die Hochebene, und auf den Steilhängen kamen Äste und Gebüsch zum Vorschein. Mir war, als hätte ich die Welt hinter mir gelassen und würde nicht mehr dazugehören.

»Dort können wir uns einrichten«, sagte Erich.

Es war eine Höhle an der Bergflanke. Die Öffnung war eng, und man musste auf allen vieren hineinkriechen. Erich inspizierte sie und sagte, es handle sich nicht um den Bau eines Tieres. Wir fingen an, die Äste aufzuhäufen und die Schneereste festzustampfen.

»Hier drin sollen wir leben?«, fragte ich ungläubig.

»Nur für einige Tage, dann gehen wir zu einem Bauernhof, wo man uns aufnehmen kann.«

»Und wer wird uns da aufnehmen?«

»Pfarrer Alfred hat mir ein Schreiben mitgegeben, das wir der Bäuerin geben sollen. Ihr Sohn ist ein junger Priester aus Mals«, sagte er und reichte mir den Zettel, den er in der Tasche hatte.

»Müssen wir auf dem Boden schlafen?«, fragte ich, während ich mich umsah.

»Wir steigen ein Stück ab und besorgen uns Laub, daraus machen wir uns ein Lager«, antwortete er geduldig. »Mit den Säcken, die wir dabeihaben, werden wir wohl nicht zu sehr frieren.«

Ich sagte ihm klar und deutlich, er dürfe keinen einzigen Schritt ohne mich machen, sonst würde ich zu schreien anfangen oder ins Tal zurückkehren. Um keinen Preis wollte ich allein bleiben. Erich strich mir über die Wange und erklärte, er werde bald einen Hasen oder einen Vogel jagen oder die Bauern bitten müssen, ihm etwas Käse zu verkaufen. Es habe keinen Sinn, zusammen zu gehen. Er ließ mir die Pistole da. Das Gewehr behielt er. Ich hatte noch nie geschossen und versuchte es auch nicht, da die Pistole nur sechs Kugeln im Magazin hatte.

»Du musst sie nur mit aller Kraft festhalten, wenn du abdrückst«, sagte er.

Ich starrte auf den eisernen Lauf der Pistole, die schwer in meinen kalten Händen wog. Wir holten das Laub, dann inspizierten wir die Umgebung. Weit und breit keine Menschenseele, und bei unserer Rückkehr wiederholte Erich überzeugt: »Bis hier herauf werden sie nicht kommen.«

»Aber es wird noch mehr Schnee geben.«

»Ja, viel Schnee.«

»Und was machen wir dann?«

»Wir müssen bloß ein paar Tage durchhalten, Trina, um uns zu versichern, dass die Deutschen diesen Pfad nicht queren. Danach werden wir bei Bauern wohnen, ihre Gastfreundschaft mit unserer Arbeit bezahlen und ihnen das Geld dalassen, das wir noch haben.«

»Wird der Krieg bald zu Ende gehen?«

»Das hoffe ich.«

In der Mittagssonne legten wir den Schal ab und aßen noch ein wenig Käse. Er ruhte sich zuerst aus. Ich ging mit der Pistole vor die Höhle und betrachtete den strahlend hellen Himmel. Die langen, schmalen Wolken, die sich in dem makellosen Blau jagten. In der Ferne sah ich einen Adler kreisen. Ich begutachtete jeden einzelnen Baum, trat ab und zu nach einem Stein. Die Luft war unbewegt.



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